Die undokumentierte Geschichte des Solovecker Lagers
von Gábor
T. Rittersporn*
Centre National de la Recherche Scientifique (Paris)
Centre Marc Bloch (Berlin)
Die Geschichte
des Lagers auf den Soloveckij Inseln - auch Solovki genannt
- ist kaum dokumentiert. Die seltenen Quellen amtlicher Herkunft
sind in verschiedenen Dokumentensammlungen zerstreut. Sie
berichten nur über die für die Administration wichtigen
Angelegenheiten, und beinahe nichts über die Welt der
Insassen, die für die Behörden nicht der Rede wert
waren. Die verhältnismäßig kleine Zahl an
Erinnerungen, die von ehemaligen Gefangenen geschrieben wurden,
erscheinen uns wie in das Meer geworfene Botschaften von Schiffbrüchigen.
Sie sind weitgehend gleichförmig und teilen das Wichtigste
mit über "etwas", was die meisten Autoren ersichtlich
nur mit Schwierigkeit imstande waren, in Worte zu fassen.
Diese Memoiren setzen den Historiker in Verlegenheit, weil
ihre quellenkritische Verwertung auf fast unüberwindbare
Hindernisse stößt auf Grund der äußersten
Knappheit des zur Verfügung stehenden Kontrastmaterials.
Aber die
Forschung kann sich nicht erlauben, die Solovecker Gefängnis-Insel
zu vernachlässigen. Sie stand am Ursprung des riesigen
sowjetischen Lagersystems, das jahrzehntelang zur sowjetischen
Landschaft gehörte. Obwohl die Strafanstalt Solovki nur
wenige Bürger des postsowjetischen Rußlands wahrnehmen,
ist Solovki auch heute allgegenwärtig. Die Abbildung
der Insel ziert die fünfhundert-Rubel Scheine, und gerade
in der Form, wie das Klostergebäude im Jahre 1923 aussah
als das Solovki-Kloster in ein Zuchthaus umwandelt wurde.
Designer,
Bankbeamte, Amtsträger und die Öffentlichkeit haben
offenkundig besseres zu tun, als sich mit der Ikonographie
eines zur Ikone gewordenen Schatzes der russischen Kultur
zu beschäftigen. Allem Anschein nach, interessiert sie
die jüngste Vergangenheit der Abtei viel weniger als
ihre jahrhundertealte Geschichte, die sie heute zu einem Emblem
erhebt. Dieses Symbol hat mit dem Lager nichts zu tun. Hier,
in der Nahe des Polarkreises, mit den technischen Möglichkeiten
des sechzehnten Jahrhunderts, wurden die Werte und der Glauben
des Mönchtums zu Stein, zu einem monumentalen Bauwerk.
Aber dieses Symbol vergegenwärtigt nicht nur die alten
Werte der Orthodoxen Kirche, sondern auch die Werte ehemaliger
Komsomol- und Parteimitglieder, die einen beträchtlichen
Teil der russischen Bevölkerung bilden und sich massenhaft
zu dieser Kirche bekennen. Es vergegenwärtigt auch die
Werte eines Staates, dessen Vertreter sich verpflichtet fühlen,
der Religiosität ehemaliger Komsomol- und Parteimitglieder
nachzueifern und etwas zerstreut die Darstellung der ehemaligen
Strafkolonie auf einer Banknote abbilden lassen.
Der Historiker
muß bemerken, daß in diesem Fall genau diese mangelhafte
Dokumentation erlaubt, Fragen zu stellen, die durch die wichtige,
aber manchmal ziemlich kurzsichtige Kleinarbeit des Archivforschers,
nicht ins Visier genommen werden können. Der Historiker
muß sich daran gewöhnen, sich mit zu Symbolen gewordenen
Gegenständen auseinanderzusetzen, mit Formen und Konnotationen
der Erinnerung und Verdrängung sowie mit dem Widerspruch
zwischen dem Wenigen, was die lückenhaften Quellen durchschauen
lassen und der Fülle der Elemente, die heute vorzufinden
sind. Es ist durchaus möglich, daß dieses Verfahren
mehr an der Gegenwart orientiert ist, als an der Vergangenheit.
Aber Geschichte ist das, was in das Gedächtnis gerufen
werden kann und auch in der Gegenwart wirksam bleibt.
Geschichte
ist wenn eine ältere Fremdenführerin zögert
davon zu sprechen, daß die mächtigen Mauern der
Abtei schon in der Zarenzeit ein Gefängnis beherbergt
hatten und im Gegensatz dazu die Selbstverständlichkeit
ihrer jungen Kollegin, welche ohne weiteres Kontinuitäten
und Brüche der langen Tradition der Eremiten- und Verbannteninsel
zu Tage bringt. Geschichte ist der Spott dieser jungen Dame
- die vor zwölf Jahren Mitglied des Komsomol war und
ihre Magisterarbeit über das Solovki-Lager geschrieben
hat - mit dem sie über die neu erschienene Gläubigkeit
der russischen High Society spricht, die in das Kloster pilgert.
Geschichte ist aber auch die Ironie mit der die junge Fremdenführerin
die Renovierungspraxis der Orthodoxen Kirche beurteilt, die
alles, was zwischen dem sechszehnten und dem einundzwanzigsten
Jahrhundert geschehen ist, ausblenden will. Geschichte ist
die Eifrigkeit des russischen Staatsoberhauptes - ebenfalls
ein ehemaliges Komsomol- und Parteimitglied - sich ein paar
Stunden lang auf der Solovki in der Gesellschaft des Patriarchen
der Orthodoxen Kirche fotografieren zu lassen., der wie der
Politiker, für das ehemalige Lager kein Interesse zeigt.
Zur Geschichte
gehören auch die Anstrengungen einer kleinen Schar von
Aktivisten, die das Solovecker Lager nicht der Vergessenheit
überlassen wollen. Sie sind Initiatoren einer Ausstellung,
die in dem zum Museum gewordenen Teil der Abtei über
den GULag berichtet und erreicht haben, daß in der unweit
vom Kloster befindlichen Siedlung den Opfern ein Denkmal errichtet
wurde, auch wenn sie nicht erreichen konnten, daß im
Kloster selbst ein Monument erbaut wurde. Auch die jährliche
Gedenkfeier an diesem Denkmal ist Geschichte durch die Versuche
verschiedener Vereine, die heute gelegentlich in Nachfolgerstaaten
der UdSSR wirken, sich in den Mittelpunkt der Feier zu manövrieren.
Die Gemeinplätze der Ansprachen lokaler Amtsträger,
die offensichtlich nicht wissen, worüber sie eigentlich
bei dieser Feier sprechen sollen, können ebenfalls der
Geschichte zugerechnet werden. Als Geschichte kann der Erfolg
orthodoxer Gläubiger und des örtlichen Popen verstanden
werden, die den symbolischen Raum der Zeremonie vollständig
besetzt haben an einem Ort, wo unter den Leidensgenossen auch
Moslems und Juden, Katholiken und Buddhisten, Protestanten
und Atheisten vertretet waren.
Vom heutigen
Stand der Dinge betrachtet, ist die Geschichte der Solovki
durch Vergessen, durch Schweigen und durch Hilflosigkeit gekennzeichnet.
Wallfahrer, Staatsdiener, Kirchenfürsten und gegebenenfalls
auch Hüter des Gedenkens an das Lager bemerken die Strafanstalt
kaum. Die Inszenierung des Klosters in der Form, wie es im
Grunde nie gewesen ist, und die Neigung, die Erinnerung an
die Opfer für eigene Zwecke umzufunktionieren, haben
die besten Chancen, die Solovki-Geschichte als solche aus
der Welt zu schaffen.
Die Insel,
die nach der Revolution jahrzehntelang nur Wächter, Beamte
der Strafvollzugsverwaltung, Häftlinge, und das Militär
betreten konnten, wurde in postsowjetischer Zeit zum Wallfahrtsort
und eben als Symbol der Ungerechtigkeit des sowjetischen Regimes.
Die letzten Jahren der Sowjetmacht waren diejenigen eines
anhaltenden Interesses am GULag und den Möglichkeiten,
das System, in welchem das Unrecht zum Alltag geworden war,
zu überwinden. Auch diese Aufmerksamkeit hatte eine starke
Tendenz, die sowjetische Tragödie in ein Kampfgebiet
umzuwandeln. Der damalige Konflikt war gegen einen Staat gerichtet
und gegen das Vergessen. Aber keineswegs, um einen Raum mit
Ritualen zu besetzen, sondern um die Vergangenheit zu deuten
und neue Perspektiven zu eröffnen.
Die Geschichte
der Strafkolonie Solovki ist die Geschichte der zum staatstragenden
Prinzip erhobenen politischen und sozialen Ausgrenzung, der
zur Routine gewordenen staatlichen Gewalt, der zum Gebrauch
banalisierten Zerstörung von Existenzen. Aber erst jetzt,
als sich die Perspektiven, die sich durch die GULag-Debatten
zu eröffnen schienen, im wesentlichen auf einen Blitzbesuch
des Staatspräsidenten und auf das Bild auf einer Banknote
beschränkten, sieht man, daß die sowjetische Geschichte
des Ortes, der am Ursprung des Lager-Imperiums stand, auch
eine solche von Entwürfen ist, die nicht verwirklicht
werden konnten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die
Mehrzahl oder gar die Gesamtheit dieser Vorhaben nicht realisierbar
war. Wir werde jedoch nie erfahren können, was sich aus
ihnen bei freien Konkurrenz hätte ergeben können.
Die ersten
Insassen des Kloster-Zuchthauses gehörten zu Schichten,
die nach der Revolution als deklassierte Schichten galten.
Manche Individuen, die zu diesen Schichten zählten, waren
dem neuen Regime gegenüber feindlich eingestellt und
hatten gelegentlich gegen die neue Ordnung gekämpft.
Nichtsdestoweniger hatten viele Deklassierte die Revolution
herbeigesehnt oder wenigstens begrüßt, auch wenn
sie mit der Politik der bolschewistischen Regierung nicht
einverstanden waren. Kennzeichnenderweise wurden Offiziere
der zaristischen Armee (oft auch wenn sie im Bürgerkrieg
an der Seite der Bolschewiki gegen ihre einstigen Kameraden
gekämpft hatten), Staatsdiener des Ancien Régime,
Kirchenmänner aller Religionen, Angehörige der alten
Bildungsschichten, und ihre Familienmitglieder, ungeachtet
ihres Alters, in die vage Kategorie der "Ehemaligen"
eingestuft. Konservative oder mit der Revolution sympathisierende
Adelige konnten ebenso auf der Solovecker Insel landen, wie
Studenten, die eine "Kosmische Akademie der Wissenschaften"
gegründet hatten. Über das Schicksal Rußlands
diskutierende Intellektuellen konnten sich genauso leicht
hinter den Mauern der Abtei wiederfinden, wie apolitische
Künstler. Nur in der Ausnahme haben Gefangene dieser
Kategorie irgend etwas begangen, was einem Delikt ähneln
würde.
Die einzige
und abstrus definierte Klasse, in welche die "Ehemaligen"
eingeordnet wurden, zeigt, wie gleichgültig dem neuen
Regime das eventuelle Projekt war, für welches sich dieser
oder jener Insasse gegebenenfalls eingesetzt haben konnte.
Es konnte sich um Bestrebungen handeln, die in ihrem Ursprung
der langen Krise der russischen Gesellschaft entsprangen und
die nach dem Scheitern der alten Ordnung substanzlos geworden
waren. Es konnte sich um Fernziele handeln, die selbst jene,
die davon träumten, nicht unbedingt als realisierbar
ansahen. Es konnten unklare Ideen zur Diskussion gestellt
werden, die mehr hypothetisch formuliert waren und zu deren
Durchführung unter russischen Umständen es offensichtlich
an Voraussetzungen fehlte. Es konnten Intentionen zum Vorschein
kommen, die bestenfalls negativ, als Vorstellungen über
etwas, was nicht vorhanden war, artikuliert wurden.
Nicht
die eventuellen Zielsetzungen der Gefangenen und noch weniger
ihre Taten waren der Grund für ihre Internierung im Solovecker
Lager. Die vornehmen Herren, die emanzipierten Damen, die
weltfremden Gelehrten, die frommen Geistlichen, die wegen
ihrer "klassenfeindlichen" Herkunft nicht in die
Hochschulen aufgenommenen jungen Leute selbst wurden als ein
Entwurf angesehen, der keinen Namen trug und nicht einmal
vage Konturen hatte, der aber von den Bolschewiki als Bedrohung
wahrgenommen wurde. Die Wertorientierungen, die Sympathien,
die Abneigungen, die Ansichten der zur Priesterschaft oder
der zur ehemaligen besseren Gesellschaft gehörenden Häftlinge
könnten zum Gegenstand endloser Streitereien werden.
Aber es ist unbestreitbar, daß die spontane Pluralität
ihrer Auffassungen das Potenzial einer Wettbewerbssituation
enthielt, das die Bolschewiki um jeden Preis aus dem Weg räumen
wollte. Gerade die Konkurrenz, die nicht-bolschewistische
Ideen, aber immerhin sozialistisch eingestellte Bewegungen
auslösen konnten, trug dazu bei, daß auch Vertreter
solcher Organisationen unter den ersten Verbannten und Inhaftierten
des Solovecker Lagers zu finden waren.
Politische
Aktivisten bildeten aber nur eine winzige Gruppe unter den
Insassen. Die raren statistischen Quellen über das Lager
zeigen, daß mit der Zeit auch Deklassierte und die Geistlichkeit
zu einer winzigen Minderheit wurden. Sechs Jahre nach der
Einrichtung der Strafanstalt bestand die Mehrheit der Gefangenen
aus Bauern, die auf den ersten Blick nicht zu den Repräsentanten
politischer Strömungen gezählt werden können.
Aber auch
Landwirte - und im Grunde genommen die ganze Bauernschaft
- verkörperten ein Projekt. Eine sich als proletarische
Avantgarde stilisierende Staatspartei konnte nicht akzeptieren,
daß der Antrieb des Umbruches, der sie zur Regierung
gebracht hatte, der Aufstand einer weitgehend aus Bauern bestehenden
Armee und die Elementarkraft der revolutionären Landnahme
durch die Dorfbevölkerung war. Eine sich als alles kontrollierende
Instanz verstehende Administration konnte sich nicht mit einer
Bauernmasse abfinden, deren Alltag daraus bestand, sich unreflektiert
allen Bestreben der Obrigkeit zu widersetzen. Ein Regime,
das eine alles verstaatlichende Zentralisierung mit Modernisierung
gleichsetzte, konnte nicht tolerieren, daß die Lebensmittelversorgung
eines riesigen Landes von der Eigeninitiative von drei Vierteln
der Bürger abhing, die in erster Linie mit Sichel und
Sense oder gar mit hölzernen Hakenpflügen arbeiteten,
politische Macht durch ihre traditionelle Dorfgemeinde ausübten
und dadurch, daß sie ihre Produkte vom Markt zurückhielten
wenn sie auf bessere Preise hoffen konnten.
Die Verstaatlichung
der bäuerlichen Lebenswelt war das wichtigste Moment
eines Großprojekts, nach welchem alle Bereiche des sowjetischen
Universums unter die Kontrolle der höchsten Gremien gebracht
werden sollte. Was die Landwirtschaft betrifft, so mußte
der Entwurf an den herkömmlichen Handlungsmodellen der
Bauern scheitern, an kleinen, zerstreut erscheinenden, aber
allgegenwärtigen Taktiken, die unter dem Deckmantel der
verstaatlichten Agrikultur und ohne durchdachte Strategie
der systematischen Leistungsverweigerung im öffentlichen
Sektor des Ackerbaus und der Tierzucht gleichkamen. In den
Lagern gehörten Landwirte zu den Meistern der "tufta",
der fiktiv ausgeführten Arbeit, deren aus dem Gefängnissprache
stammender Name schon in einer Schrift über den Häftlingsjargon
des Solovki-Zuchthauses erwähnt ist. "tufta"
wurde zum üblichen Vorgehen sowohl in den Strafkolonien,
wie auch in der ganzen Sowjetunion, und nicht nur in allen
Produktionszweigen, sondern auch in einem immer weiter ausgedehnten
Staatsapparat, welcher der Verwaltung einer immer unübersichtlicheren
Gesellschaft immer weniger gerecht werden konnte.
Der Ausbau
des Solovecker Lagers hin zum übermächtigen GULag-Reich
und die spätere Demontage dieses Imperiums folgten dem
Schicksal der Hoffnungen der sowjetischen Elite, die sich
ursprünglich imstande sah, einen gigantischen sozialen
und politischen Raum in Besitz zu nehmen und umzugestalten
oder wenigstens durch Gewalt zu erobern und verändern
zu können. Die Undurchführbarkeit des Vorsatzes
und das exorbitante Gewicht von allem, was von den mißlungenen
Regierungsinitiativen als zersetzte gesellschaftliche Beziehungen,
ruinierte Lebenswelten, arbeitsunfähige Wirtschaftsordnung
und vergeudete Möglichkeiten entstanden und übrig
geblieben ist, bestimmte und gestaltete das Großvorhaben
in Wirklichkeit seit langem, und nicht das, was die Elite
über die Zukunftsperspektiven der UdSSR zu wissen glaubte.
Die Akkumulation der Trümmer der zum Alltag gewordenen
Fehlschläge bildete zunehmend eine kritische Masse, die
entschärft werden sollte.
Ohne es
zu bemerken, griff die sowjetische Führung auf das einzig
vorhandene kulturelle Erbe zurück, auf den Solovki-Nachlaß,
auf die Entwürfe, die auf der Gefängnisinsel Schiffbruch
erlitten hatten. Aber die Solovki-Rezepte waren zu wenig durchdacht,
zu skizzenhaft erarbeitet, zu stark an eine verlorene Zeit
gebunden und zu spät ausprobiert worden. Um einen radikalen
Bruch mit dem sowjetischen Projekt zu vermeiden, setzte das
vorsichtige Experimentieren mit dem hinter den Mauern des
Klosters sprießenden Ideen und Vorstellungen ein mit
dem Ziel der Vervollkommnung und Rettung genau jenes Systems,
welches die Abtei zur Strafanstalt hatte verkommen lassen.
Es ist symptomatisch, daß die Vorhaben der streng dogmatischen
Sprachregelung, des Kultes des starken Staates, des Großmachtwahns,
der Vergötzung einer allmächtigen Vaterfigur und
des ritualisierten Umganges mit einer durch die Obrigkeit
vorgeschriebenen höchsten Wahrheit überraschend
früh sowjetisiert wurden. Dagegen war die Konkurrenz
der Ideen und der Initiativen nur mit großer Verzögerung
und in einem sehr engen Rahmen zugelassen. Sie wurde durch
eine höchst wirksame "tufta" von Beamten des
Regimes, das zu reformieren war und das die Reformversuche
nicht überleben konnte, zum Fiasko verurteilt.
Man kann
sich fragen, ob die Verehrung des Solovki-Klosters durch die
postsowjetische Administration - eine Reverenz, die auch dazu
beiträgt, daß die auf der Banknote erscheinende
Strafkolonie in allem Ernst für die eigentliche Abtei
gehalten wird - nicht eine heutige Variante der "tufta"
ist. Man kann erwägen, ob die Pilgerfahrt des Staatsoberhauptes
um den Patriarchen zu treffen, dessen Residenz sich, wie der
Kreml, ebenfalls in der russischen Hauptstadt findet, nicht
Taten vortäuschen sollte für eine Öffentlichkeit,
die eher durch diese fiktiv ausgeführte Arbeit als durch
die Errungenschaften des neuen Regimes beeindruckt werden
muß. Man kann auch dem Problem nachgehen, ob die zum
höchst offiziellen Spektakel umfunktionierte Solovki
nicht in der Traditionslinie der verpaßten Möglichkeiten,
der aussichtslosen Vorhaben und der zerstörten Zukunftsaussichten
steht, die ein Hauptmotiv der sowjetischen Geschichte der
Insel ist.
Verlorengegangene
Illusionen und die "tufta" sind keineswegs das einzige
Erbe der Solovki-Haftanstalt. Gegenwartsbezogene Forschung
kann sogar ein im Grunde verwirklichtes Projekt zu Tage fördern,
welches sich wenigstens zum Teil auf das Solovki-Lager zurückführen
ließe. Es geht um einen Systementwurf, in welchem informelle
Netzwerke als zentrale, das eigentliche Organigramm des Regimes
weitgehend überschattende, Institutionen funktionieren.
Die meisten
Verfasser von Erinnerungen bemerken, daß auf der Gefängnisinsel
die Angehörigkeit zu Solidaritätsnetzwerken wortwörtlich
lebenswichtig sein konnte. Leichtere Arbeit, erträglichere
Unterkunft, verbesserte Ernährung konnten die Insassen
in der Regel durch die aktive Unterstützung von Bekanntschaften
erhalten, die als Gruppen oder Ketten funktionierten und die
in verschiedenen Dienststellen der Lagerverwaltung, wo Häftlinge
eingestellt waren, nützliche Beziehungen unterhielten.
Jede Begünstigung eines Gefangenen bedeutete die Beschränkung
der Möglichkeiten eines anderen, für sich selbst
bessere Umständen zu erreichen. Die Aktivität der
Solidaritätsnetzwerke in den Strafkolonien war keineswegs
frei und nicht ohne Risiko. Die Administration konnte immer
durchgreifen und ihre eigenen Prioritäten durchsetzen.
Informelle
Netzwerke funktionieren in allen Gesellschaften. Aber unter
sowjetischen Verhältnissen sie sind zu einer grundlegenden
Institution geworden. Für einfache Bürger konnten
sie besonders für die Anschaffung knapper Waren und für
die Erwerbung günstigerer Arbeits- und Wohnverhältnisse
unentbehrlich sein. Im Partei- und Staatsapparat, von den
Behörden auf den niedrigsten Stufen der Amtshierarchie
bis zu den Spitzengremien wurden persönliche Kontakte,
Bekanntenkreise, mehr oder weniger enge Verbindungen unter
Staatsdienern und verzweigte Allianzen unter Würdenträgern
immer maßgeblicher. In den letzten Jahrzehnten des sowjetischen
Experiments haben sie sowohl in den Reformversuchen, wie auch
in ihrer Vereitelung die Schlüsselrolle gespielt, und
nicht die formellen Institutionen der Staatspartei.
Die oft
als authentische Revolution angesehene Privatisierung des
sowjetischen Staatseigentums wurde hauptsächlich durch
die Bemühungen von ähnlichen, in die Arkana des
alten und des entstehenden Regimes eingeweihten Milieus zustande
gebracht. Das Spiel und die byzantinischen Intrigen solcher
Solidaritätsnetzwerke hat auch in der Gegenwart gute
Chancen von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Jedenfalls
waren sie entscheidend in der Karriere des heutigen Staatsoberhauptes,
der es innerhalb von fünf Monaten von einem ruhmlosen
Spezialisten des Geheimdienstwesens zum amtierenden Präsidenten
schaffen konnte, ohne gewählten Instanzen anzugehören.
Der Terminus
"tufta" war außerhalb der Lager wenig bekannt
und ist heute fast vergessen. Dagegen wird das Wort, das die
Netzwerke und die Natur ihrer Aktivität bezeichnet, allgemein
benutzt. Es hat bereits die Aufmerksamkeit der Lexikographen
kurz vor dem Ersten Weltkrieg erregt. Die Benennung "blat"
kommt aus dem Jiddischen. Ihre ursprünglichen Bedeutungen
läßt sich übersetzen mit "Einverstandene"
oder "Eingeweihte". Sie ist durch die Vermittlung
der polnischen Unterwelt in den Wortschatz der russischen
Kriminellen und später von letzteren in die Umgangssprache
eingedrungen, wo sie ein breites Spektrum von Begriffen benennt,
das von "Verbrecherjargon" selbst bis "illegal
beschafften Vorteil", "Vetternwirtschaft",
"vorteilhaften Beziehung" bis hin zur "Bestechung"
reicht.
Professionelle
Verbrecher - "blatnye" - gehörten zu den "Eingeweihten"
der Lager. Auch sie waren stark im Solovecker Lagers vertretet.
Sie haben im Klostergefängnis ihr spezifisches Universum
mit eigentümlichen Gebräuchen, undurchsichtigen
Bündnissen und Feindseligkeiten zwischen verschiedenen
Cliquen und Banden wieder errichtet. Ihr "blat"
bestand vor allem in der Abgrenzung von der übrigen Insassengesellschaft,
in Bemühungen, auf Kosten der Mitgefangenen möglichst
wenig oder gar keine Arbeit zu leisten, in der unaufhörlichen
Tyrannisierung der nicht zum Kriminellenmilieu gehörenden
Inhaftierten und in der regelmäßigen Plünderung
derer Habseligkeiten.
Ist es
etwa übertrieben, ein Projekt gerade dieses Gesindels
in dem sowjetischen und sogar in dem postsowjetischen Rußland
als verwirklicht anzusehen, nur weil der Name und ein paar
Faustregeln einer Institution des alten und des neuen Regimes
aus der Gaunerwelt stammen? Es ist wohl kaum übertrieben,
wenn der Forscher den sich immer mehr ausbreitenden Wirkungsbereich
immer einflußreicher gewordener Netzwerke und ihrer
immer unübersehbarer und unkontrollierbarer gewordenen
Konflikte betrachtet, die auf Kosten der Bevölkerung
ausgetragen werden. Die Überspitzung ist vielleicht nicht
vollständig unangemessen, angesichts des zunehmenden
Sozialdarwinismus, den das Parasitentum dieser Gruppen und
ihre zynische Ausplünderung Rußlands fördert.
Die Behauptung ist nicht wirklich grundlos im Hinblick auf
die Schiedsrichterrolle eines in den Machenschaften der niedrigsten
Niveaus der Geheimdienste sozialisierten Neuankömmlings
der großen Politik und seiner Mannschaft, von welcher
eine in chaotischen Abrechnungen verwickelte Elite die Erlösung
hofft. Und um so mehr, als der fromme Pilger versteht, wie
er sich ab und zu der Ganovensprache öffentlich bedienen
kann, was seine Nähe zu den Bürgern zeigen soll
und was, allem Anschein nach, zu seiner Popularität beiträgt.
Der prominente
Wallfahrer bemühte sich, anläßlich seiner
Stippvisite auf der ehemaligen Gefängnisinsel, die lebenswichtige
Bedeutung des Christentums für das, was er als "Heilige
Rußland" bezeichnet hat, zu betonen. Seine Umgebung
hat sich ihrerseits alle Mühe gegeben, um hervorzuheben,
daß er das dritte Oberhaupt des russischen Staates ist,
das die Solovki besucht hat. Mit Peter dem Großen und
mit Alexander II scheint er in guter Gesellschaft zu sein.
Wer will sich heute erinnern, daß Peters durch Staatsgewalt
in Gang gesetzte Modernisierungsprojekt letztendlich im Sande
verlaufen ist? Wer will heute ins Gedächtnis rufen, wie
vorsichtig Alexanders Reformversuche waren und wie die Folgen
ihrer halbherzigen Verwirklichung zur Vorgeschichte der gescheiterten
Reformvorhaben des zwanzigsten Jahrhunderts gehören?
Vielleicht niemand, der über das Wenige, was wir von
der undokumentierten, aber offenbar wirkungsreichen Geschichte
der Solovki während der sowjetischen Epoche erfahren
können, nicht nachdenkt, nicht nachdenken kann oder nicht
nachdenken will.
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